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Gutes Benehmen wieder gefragt?


Wussten Sie, dass es für einen Mann unstatthaft ist, in Gegenwart einer stehenden Frau zu sitzen? Wussten Sie, dass ein Mann eine gesellschaftliche Todsünde begeht, wenn er der Frau die Hand zum Gruß zuerst reicht? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Rauchen auf offener Straße schon grundsätzlich unangebracht, aber für Frauen definitiv ungehörig ist? Wenn Ihnen das alles egal ist, befinden Sie sich im Jahr 2002. Aber gehen wir zurück ins Jahr 1958, als diese und viele anderen Benimmregeln noch galten.

Ich beziehe mich auf das Buch "Der gute Ton" aus dem Jahr 1958, das mir kürzlich in die Hände gefallen ist. Ich fand die Lektüre ausgesprochen amüsant, das beweist, dass sich seither doch (Gottseidank!) vieles geändert hat. Einige besonders absurde Verhaltensregeln möchte ich aber auch Ihnen nicht vorenthalten.

Sie essen gerne Eis? Wenn Sie eine Frau sind, dürfen Sie das Eis in der Tüte aber nicht auf offener Straße schlecken, da müssen Sie das Eis mit einem Löffelchen herunterlöffeln (Zitat: "Nur Gassenjungen zeigen die Zunge auf offener Straße"). Wie man dann die Tüte isst, bleibt unbeantwortet.

Wissen Sie, wie man einen Besuch macht? Dazu gibt es die Visitenkarten (auch ich hatte da ein Aha-Erlebnis, woher das Wort Visitenkarte stammt), die man beim Besuch abgibt. In Zeiten, in denen die Kommunikation per Telefon anscheinend noch nicht üblich war, ging man zum Vormittagsbesuch (nicht länger als 15 min Aufenthalt!, nicht vor 10 Uhr, nicht später als bis 12 Uhr), wenn der Besuchte nicht zu Hause war, "wird nur die Visitenkarte abgeworfen" (auf das versilberte Tablett, das die Hausangestellte reicht, ansonsten in den Briefschlitz). Der Nachmittagsbesuch darf länger dauern, sowohl bei Vor- als auch bei Nachmittagsbesuchen muss die Dame den Hut aufbehalten, der Herr muss ihn ablegen. Für Gegenbesuche gibt es komplizierte Regeln, es kommt auf den gesellschaftlichen Rang an, wer mit dem Besuchen beginnen muss und wie schnell man den Gegenbesuch zu absolvieren hat. Auch mit Verhaltensmaßregeln für Schönheitspflege wird nicht gespart. So ist es für die Frau Pflicht, ihre Gesichtshaut mit einer Fettcreme schön und glatt zu erhalten. Wenn das Eincremen am Abend den Mann jedoch abstößt, ist zu warten, bis er eingeschlafen ist und erst dann die Cremedose aus dem Nachtkästchen zu holen.

Nochmals zurück zum Beginn, die Sache mit dem Gruß. Wenn eine Frau bemerkt, dass ein Mann im Begriff ist, ihr beim Handreichen zuvorzukommen, muss sie sich ihrerseits bemühen, schneller zu sein als er, damit er nicht "gesellschaftlich erledigt" ist. Überhaupt - die überaus wichtigen Fragen, wer wen zuerst grüßt, wer wem vorgestellt wird, füllen mehrere lange Kapitel und würden zur Wiedergabe mehr als einen Artikel benötigen.

Das Gegenstück dazu bildet das neue Benimmbuch von dem bekannten Partygirl Ariane Sommer (sie ist aber auch Diplomatentochter), in dem es um aktuellere Benimmthemen wie die richtige Konversation per SMS und Mail geht oder um die Frage, ob die Sonnenbrille bei Begräbnissen (ja!), bei Clubbings (eher ja) oder Treffen mit Freunden (nein) aufbehalten werden darf. Ein längerer Absatz ist auch dem Tragen von Jogginganzügen auf offener Straße gewidmet, dies ist außer für das Joggen (und auch da als eher peinlich eingestuft) generell abzulehnen.

Zumindest wird in dem neuen Buch nicht so stark zwischen dem Benehmen von Männern und Frauen unterschieden, was derzeit für ein Geschlecht gilt, gilt auch für das andere. So gesehen wurde die Forderung nach Gleichbehandlung großteils verwirklicht. Es ist ja auch ein Widerspruch, auf Gleichbehandlung zu pochen und gleichzeitig zu erwarten, dass die Männer die Türe aufhalten!

Mag. Gabriele Scholz


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Letzte Änderung: 2002-05-20 - Stichwort - Sitemap