Wo liegt Tschetschenien?
Es mag manchen überraschen, aber nach der üblichen Definition der Erdteile, die Europa von Asien u.a. mit dem Kaukasus-Hauptkamm abgrenzt, liegt Tschetschenien in Europa.
Völkerrechtlicher Status Tschetscheniens:
Republik innerhalb der Russischen Föderation.
Die wichtigsten geografischen Fakten:
Bevölkerung: Ca. 1 Million; zahlreiche Einwohner leben allerdings auf Grund der schlechten Sicherheits- und Menschenrechtslage und der weitgehenden Zerstörungen in anderen Teilen der Russischen Föderation, insbes. in der Autonomen Republik Dagestan. Der früher relativ hohe Anteil von Russen an der Bevölkerung ist drastisch zurückgegangen.
Hauptstadt: Grosny.
Hauptsächliche Sprachen: Tschetschenisch, Russisch.
Hauptsächliche Religion: Islam.
1858: Kurz nach dem Ende des Krimkrieges wird Tschetschenien, als letztes Gebiet im nördlichen Vorfeld des Kaukasus, endgültig von Russland erobert. Vorausgegangen waren zwei Jahrzehnte an Kämpfen mit einheimischen Anführern, unter denen Imam Schamyl, der sich breiter Unterstützung erfreute und einen islamischen Staat errichten wollte, besonders hervorzuheben ist.
1922: Die Sowjets errichten im Rahmen ihres Nationalitätenprogramms ein Tschetschenisches Autonomes Gebiet (innerhalb der Russischen Föderativen Sowjetrepublik), das 1934 im Rahmen der Stalin´schen Umorganisationen mit dem Gebiet der Inguschen zur Tschetscheno-Ingusischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik zusammengelegt wird.
1944: Stalin lässt die Tschetschenen (ebenso wie die Inguschen) - wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht - nach Sibirien und Zentralasien deportieren.
1957: Chruschtschow stellt die Tschetscheno-Ingusische Autonome Sowjetrepublik wieder her.
1992: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird das kommunistische Regime gestürzt, die Tschetschenen trennen sich von den Inguschen und der Führer der Nationalisten, Dschokhar Dudajew, ein ehemaliger sowjetischer Fallschirmjäger-General, wird zum Präsidenten gewählt.
1992: Tschetschenien gibt sich eine (laizistische und westlich-demokratische) Verfassung und erklärt die (von Russland nicht anerkannte) Unabhängigkeit.
1994: Russische Truppen marschieren nach Tschetschenien ein. In dem nachfolgenden eineinhalbjährigen Krieg kommen etwa 100.000 Menschen, hauptsächlich Zivilisten, ums Leben.
Russischer Soldat in den Ruinen von Grosny |
Der Krieg ruiniert die regionale Wirtschaft, deren industrielle Hauptstütze die Erdölverarbeitung war.
1995: Die Tschetschenen können sich in der konventionellen Kriegsführung nicht gegen die vielfach überlegenen russischen Truppen behaupten und verlegen sich auf „Terrorangriffe“: Als erste Aktion in großem Maßstab werden im Juni in einem Krankenhaus im südlichen Russland, in Budennovsk, mehrer hundert Geiseln genommen.
1996: Nach dem Tod von Präsident Dudajew durch einen russischen Raketenangriff übernimmt Zemlikhan Jandarbajew das Amt. Dieser schließt im Mai einen kurzlebigen Waffenstillstand mit den Russen.
Durch die bewaffneten Auseinandersetzungen wurde allerdings die Zivilgesellschaft in hohem Maße zerrüttet. Örtliche Milizenführer, die sich der ökonomischen Ressourcen bemächtigen, gewinnen zusehends an Macht. Die Regierung verfügt folglich nur über eingeschränkte Autorität.
Die Führung der Tschetschenen geht in immer stärkerem Maße auf dezidiert islamistisch orientierte Kräfte über.
Nach einem erfolgreichen Angriff auf Grosny schließen die Russen im August 1996 wieder einen Waffenstillstand, diesmal mit dem Führer der Aufständischen, Aslan Maschadov, der in der Folge auch die Präsidentenwahlen gewinnt.
1997: Im Mai unterzeichnen Jeltzin und Maschadow ein Friedensabkommen, wobei allerdings die Frage der Unabhängigkeit ausgeklammert bleibt.
Der erste Präsident: Dschokar Dudajew |
Präsident Aslan Maschadow |
1998: Die Regierung Maschadov wird der wachsenden Unruhe im Land nicht Herr. Es kommt zu Entführungen (auch hoher russischer Funktionäre) und Überfällen mit teils kriminellem, teils politischem Hintergrund durch von der Regierung nicht kontrollierbare islamische Gruppierungen bzw. kriminelle Banden. Diese versuchen, gegen den Widerstand der eigenen Regierung, den „Heiligen Krieg“ auch in Gebieten außerhalb Tschetscheniens zu führen.
1999: Auf Grund wachsenden Drucks islamistischer Gruppen verkündet Maschadow im Jänner den Übergang zu einem islamischen Rechtssystem (Scharia).
Islamistisch-tschetschenische Kämpfer tragen die Auseinandersetzungen auch in die (weiter der Russischen Föderation zugehörigen) Republik Dagestan.
Zahlreiche Zivilisten (ca. 200.000) verlassen auf Grund der unruhigen Lage und aus Furcht vor russischen Gegenschlägen Tschetschenien.
2000: Russische Truppen marschieren in Tschetschenien ein und erobern (unter weitgehenden Zerstörungen) im Februar Grosny.
Russland ernennt Achmed Kadyrov, einen früheren islamischen Kleriker, zum Chef der Zivilverwaltung.
2002: Die Partisanenkämpfe und Anschläge gehen weiter.
Menschenrechtsorganisationen klagen die russischen Truppen und Sicherheitsdienste systematischer Folterungen und Entführungen an.
Im Oktober nehmen Tschetschenen 800 Geiseln in einem Moskauer Theater.
Hauptleidtragende der
Kämpfe ist die Zivilbevölkerung: Zivilisten auf der Flucht vor den bewaffneten Auseinandersetzungen |
2003: Ein Verfassungsreferendum, das von der von Russland eingesetzten Regierung Kadyrow durchgeführt wird, trägt nicht zur Konfliktlösung bei. Die Gegner sehen es nur als abgekartetes politisches Manöver, dessen Ausgang von vornherein feststeht.
Im Oktober wird Kadyrow zum Präsidenten gewählt. Die Opposition kann nicht an den Wahlen teilnehmen.
Präsident
Kadyrow: Ehemaliger Mufti der Republik Tschetschenien (1995) und einer der Anführer der Guerilla gegen die russischen Truppen in den Jahren 1994 bis 1996. |
2004: Obwohl der russische Geheimdienst das Stadion intensiv geprüft hatte, gelingt es tschetschenischen Kämpfern eine Bombe unter der Ehrentribüne zu plazieren. Während der Gedenkfeiern zur Kapitulation Nazi-Deutschlands werden Präsident Kadyrow ebenso wie weitere hohe Funktionäre seiner Regierung und Vertreter der russischen Truppen durch eine Explosion getötet.
Der Kreml beeilt sich, noch im Mai den Sohn und Chefleibwächter (er kommandiert eine 4000 Mann starke Privatarmee) des getöteten Präsidenten, Ramzan Kadyrow, zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten der Republik Tschetschenien und damit zum präsumptiven Nachfolger seines Vaters zu befördern.
Rainer Kaltenbrunner