Spitzbergen, so von den Niederlanden genannt, oder Svalbard, so von den Norwegern bezeichnet, erstreckt sich bis zum 80. Breitengrad der nördlichen Halbkugel. Weiter ist nur mehr der Nordpol, welcher diesen Sommer ob des Klimawandels nur schwimmend zu erreichen ist, wie mir ein befreundeter Reiseleiter berichtete.
Die Inseln sind leicht zu bereisen von Europa aus, lediglich 5 Flugstunden, die de facto durch 1 oder 2 Zwischenlandungen unterbrochen werden – Oslo, Tromsö.
Und spitze Berge sind es allemal! Beim Anflug sieht man sie zuhauf. Und nicht nur spitz, auch Bergsdächer sind zu erkennen und unzählige, derzeit nicht aktive Vulkane.
Es wird Longyearbyen, („Stadt von Longyear“),die Hauptstadt, mit den Linienmaschinen angeflogen – benannt nach John Longyear, einem Holzbauunternehmer - Kleinere Ansiedlungen werden mit Kleinflugzeugen versorgt. Und es gibt sie, diese Niederlassungen! Das ganze Jahr über sind sie bewohnt, wenn auch oft spärlich, denn 4 Monate Dunkelheit, nur erleuchtet durch die Straßenlampen, müssen erst ertragen werden.
Dagegen gibt es jetzt im Sommer ganztägig Sonnenschein.
Flora und Fauna betreffend ist hier einiges geboten: erstere muss man oft mit der Lupe suchen, aber dann ist sie in aller Pracht da; zweiterer begegnet man am besten gut gerüstet, will sagen, wie ein Jäger der Vorzeit – mit einer Flinte. Diese kann man ohne Waffenschein in der Hauptstadt ausleihen. 5 Schüsse am Stück, und der erste muss, im hoffentlich nicht eintretenden Bedarfsfall, sitzen.
2.000 Leute tummeln sich in den farbigen Häusern; es gibt Hotels, Geschäfte, Restaurants, ein ausgezeichnetes Museum und eine Kirche mit Eisbärenbild im Altarraum. Und die Möwen, sie nisten neben der Straße, oder gleich neben den Häusern – Bodenbrutgebiet - weshalb man auf jeden Fall im Fallflug attackiert wird, irgendwohin muss man ja treten.
Dort, wo sich die Schlittenhunde befinden, am Ortsende, soweit kann man getrost gehen. Danach warnt sowieso das obligate dreieckige Schild: „Achtung Eisbär – gilt für ganz Spitzbergen“. Man sieht sie nicht, noch nicht, doch wurden sie schon in Vorgärten gesichtet in einer ruhigen Nacht. So nimmt man sich bei Bedarf einen ausgebildeten Ranger, der einen mit Gewehr auf die zahlreichen möglichen Ausflüge in die Berge der Umgebung begleitet. In 99 % der Begegnungen ergreift der weiße Bär die Flucht; es nützen also auch Signalfeuerwaffen. Aber in dem 1 % der Fälle, in welchem der Eisbär zu Tode kommt, wird dann beim norwegischen Gericht geklärt, wie der Sachverhalt zustande kam.
Auf See, am Kai, tummeln sich Kreuzfahrtschiffe, welche nur bis Alesund vordringen, z. B. die Boreal. Unser Expeditionsschiff liegt in der Bucht verankert, mit großen Schlauchbooten, Zodiacs genannt, erreichbar. Diese behäbigen Schiffe sind packeistauglich und können bei guten Gegebenheiten, so wie wir sie vorfinden, Spitzbergen umrunden. Sie besitzen die höchste Eisklasse und schieben die Schollen beiseite. Eisbrechen können sie nicht.
Um 16 h beginnt die Einschiffung. Wir beziehen unsere, für 2 Personen geräumige, Vierer-Kabine. Margaret aus England, ist meine Kajüten-Kollegin. Ihr Motto „It´s always a bit of the unknown to share a cabin with somebody you don´t know“.
Dann Briefing in der Bar am Oberdeck und Rettungsübung.
Es sind 108 Passagiere an Bord, 120 wären möglich. So sind einige 4er-Kabinen nur 3-fach belegt. 47 Mann Besatzung; die Guides aus ganz Europa, das Personal im Service von den Philippinen, Ingenieure und Arbeiter aus Russland.
Kapitän Ernesto Vergas aus Chile. Ein sehr aparter Mann, der jede Expedition mit Begeisterung zu seinem persönlichen Erfolgserlebnis macht.
Wir legen ab.
Gleich am 1. Expeditionstag werden wir in 3 Gruppen eingeteilt für die Landausflüge: die Zünftigen, die Hiker, die Mediums und die leisurely walkers, sprich: 3 Schritte gehen, 10 min fotografieren. Ich entscheide mich zu Anfang für die mittlere Gruppe, man weiß ja nie. Meine 2 pensionierten Bayerinnen, mit welchen ich eine Sprachgemeinschaft gegründet habe, schließen sich an.
Die Luft ist klar, der Himmel blau, es hat 8 ° C. Herrlich. Wir wandern über die weiche Tundra, und ja! - die Wanderschuhe konnte man wahrlich an den Nagel hängen – es wird mit kniehohen dicken Gummistiefeln gewandert, da die Anlandungen immer „wet“ sind – vom Schlauchboot ins Meer an den Strand. Das Holz am Strand wird von Sibirien angeschwemmt; die ehemals hier einheimischen Bäume unserer europäischer Breiten trifft man nur mehr in Form von Kohle an.
Eine Wohltat für die Beinmuskulatur sind diese Stiefel – bereits am 2. Tag habe ich Knieschmerzen durch das ewige Schwingen der Gummisohle … - ich stelle mir dann vor, man schicke einen Wanderer in diesem Schuhwerk auf die Rax -.
Meine Ausrüstung wird täglich in Variationen erprobt: mein Schigewand habe ich dabei, eine Windjacke, eine wasserdichte Überhose, eine dünne Jacke plus Haube, 2 Paar Handschuhe, Schal. Zwiebelprinzip ist die beste Lösung. Aber oftmals kann ich mit kurzen Ärmeln wandern.
Wir sehen Eiderenten, die auf einem 1 m² großen Inselchen in einem Seechen nisten, um dem Fuchs Paroli zu bieten. Und natürlich die wunderschönen Rentiere und ihren fein pelzigen Jungtieren, die einzige Hirschart, bei welcher Weibchen und Männchen ein markantes Geweih aufweisen.
Nachmittags geht’s nach Alesund, einer wissenschaftlichen Ansiedlung (Korea, China, Norwegen etc. haben hier ihre Forschungsinstitute), welche das nördlichste Postamt beheimatet. Ein Schild weist darauf hin, auf der Straße zu bleiben. Auch hier Bodenbrutgebiete für diverse Vogelarten!.
Die Rohrleitungen verlaufen in Holzkanälen oberirdisch. Beim Hundegard wird als Winterfutter Robbenfleisch fein abgehangen.
Wir gewöhnen uns schnell ein. Vor jedem Landgang ein Briefing, das 10 min dauert und das man am besten schon in halber Montur besucht, um daraufhin in 5 min startklar beim Zodiac zu stehen – in diesen 5 min muss man 2 Stockwerke im Rudel der anderen 100 Reisenden bezwingen, aus der Kabine die restlichen schon bereit gestellten Utensilien holen: Rucksack, 3 Hosen, 3 Jacken und Zubehör, 2 Paar Socken und die Stiefel; dann das Nummernkärtchen umdrehen, damit ersichtlich ist, dass man von Bord geht; dann noch die Schwimmweste anlegen. Uff. Und im besten Fall trifft man Bekannte., mit denen man gemeinsam ein Zodiac besteigt. Wichtig ist auch, sich an der richtigen Schiffsseite an zu stellen (Backbord, Steuerbord), aus logistischen Gründen.
Zwischendurch an Bord gibt es immer wieder Vorträge im Vortragssaal; und weitere „Recaps“ von den Erlebnissen an Land in der Bar. Und fixe Essenszeiten im Speisesaal. Die Bestuhlung ist eng, um alle 108 in U-Form gleichzeitig bedienen zu können. Deshalb empfiehlt sich beim Frühstück und Mittagessen in Buffetform einen Sitz ohne Rücknachbarn zu wählen. Diese Aufgabe habe ich für uns 3 (meine 2 Bayerinnen und mich) übernommen.
Der Schiffskoch ist ein Steirer, weshalb es auch Kasspatzen und Gulyas gibt. Ich knüpfe kulinarische Bande, welche mir Salat mit Kernöl bescheren. - und Neid -.
Der Hotelchef ist ein Wiener, dessen Connection mir wiederum am Abend eine Spezialauswahl aller angebotenen Gerichte auf einem Teller beschert. -
Es kristallisieren sich Sprachgruppen unter den Gästen heraus: die Franzosen erhalten ihr Gruppen-Briefing getrennt von den anderen Passagieren gleich im Vortragssaal; die Spanier haben ihren eigenen Guide und die jugendliche chinesische Gruppe bleibt bei Englisch. Und dann noch die „Birder“, natürlich Engländer. Dazwischen sind wir, einige Deutsche, Belgier, Österreicher.
Lucy aus Wales gesellt sich zu mir – sie ist gleich alt und übt denselben Beruf aus! Weiters eine spanische Dame, die auch gut Englisch spricht.
Unser Dreiergrüppchen sitzt eines Abends mit 3 chinesischen Youngsters am Tisch und es wird eine wunderbare transkontinentale Verbindung – wir haben so viel lauten Spass, dass sich die Leute vom Nebentisch nach uns umdrehen. Ein sehr gutes Englisch, Benehmen und Verständnis für unsere Witze machen dies aus. Herrlich! Obwohl erst 16 Jahre alt, machen sie einen bleibenden Eindruck.
Diese zwischenmenschlichen Gebarungen laufen im Hintergrund dessen ab, weshalb wir eigentlich hier sind: einer grandiosen Natur, Schauspielen der Schöpfung. Wir werden eingebettet in arktische Verhältnisse, mit all unseren Sinnen. Wir bewegen uns in eiskaltem Wasser, umgeben von einem der größten Raubtiere – eine feindliche Umgebung, welche uns durch klaren Sonnenschein und lauer Luft an 8 Tagen versüßt wird.
Am Vormittag des 3. Tages wollen wir Walrösser erkunden. Wir landen in Sorgfjord an und sehen schon in 50 m Entfernung einen brauen lebenden Fleischberg, welcher in der Sonne döst. Es sind an die 50 Atlantische Walrösser, die die Hauer in die Luft strecken und warten, bis ihr enormer Bauch rosafarben ist. An Land sind sie schwerfällig, bewegen sich mühsam mit ihren Flossen, welche sogar Nägel an den einzelnen Zehen aufweisen (!), ins Meer.
Als wir von unserer Wanderung auf einer lang gezogenen Fjelle-Ebene zu einem Canyon zurück kehren, haben sich 4 Walrösser ins Wasser begeben und schwimmen uns entgegen. Es ergibt sich dadurch eine normalerweise zu vermeidende Situation: unsere Gruppe stellt sich in U-Form auf, die Tiere formen ein O daraus. Fazit: es gibt für sie keine Fluchtmöglichkeit über den Strand. Rinie, der Cruise-Director, ist besorgt. Er versucht unsere Gruppe auf zu machen, was jedoch angesichts dieser bewegenden Situation ein schwieriges Unterfangen ist. 30 min sitze ich auf Kies, um die Säuger zu beobachten: sie tümpeln fröhlich herum, haben Gefallen an unserer Präsenz, recken ihre 30 cm langen Hauer in die Luft, stupsen einander an. Wenn sie gähnen, zittert ihr gewaltiger Schnurrbart wie der einer Katze. Ich muss kichern.
Bereits am Nachmittag machen wir uns auf, um auf schnellstem Wege ins Packeis zu kommen. Ich habe keine Ahnung, was sich hinter diesem hektischen Ansinnen verbirgt.
Am Schiff merkt man ein stündliches Kälterwerden.
-„Ja“, erklärt Michael, der Wiener Hotelchef, „das wird jetzt weiterhin so sein, ich habe die Heizung eh schon höher gedreht, doch das ist schwierig, da hauptsächlich die Kabinen am Schiffsende betroffen sind, den anderen ist unerträglich heiß.“-
Wir fahren und fahren, und ja – am Horizont erscheint plötzlich, in gleißendem Sonnenlicht, solch eine weiße Linie. Wieder eine Fata Morgana? - die gibt’s hier zuhauf, auch zu fotografieren – in Form einer sich aufbäumenden kristallenen Wand! -
Nein, der weiße Horizont gleitet näher, um sich dann in Brocken zu zerteilen. Immer größer werden diese, die blaue Wasserfläche löst sich auf und wir schwimmen in Weiß. Das ist es also! Das Packeis, auch in Englisch „Pack Ice“ genannt, das unser Eisbrecher zerteilt. Er schneidet es nicht, wie vermutet, sondern schiebt mäßig große Brocken auseinander, um eine Fahrtrinne zu finden. Dies unter den Argusaugen von Kapitän Ernesto, der vermeintlich lässig an der Fensterwand der Brücke lehnt und minütlich seine Zahlen-Anweisungen an den 1. Offizier und den Steuermann erteilt: „Midship“, „1, 5“ o. ä. Die 1. Offizierin aus Argentinien, Ala, erklärt mir, die Besonderheit dieses Schiffes sei die Schiffsschraube: jedes einzelne der Rotorblätter ließe sich auch noch in einen anderen Winkel drehen, was sie hiermit veranlasse. Eine täglich neu eintreffende Eiskarte ist zusätzliche unablässige Navigationshilfe.
Weiß, überall weiß! Unglaublich. Eine unwirtliche Natur, oder kann man noch immer von „Landschaft“ sprechen – denn für einige Tiere ist es auch Land.
Nur ich denke momentan, hier lebt kein Floh. Wo sollen die Tiere sein? -
Bis ich dann rein zufällig über die Reeling spähe und fast erstarre: Fußspuren! Eisbärentapper! Sie kreuzen die links von uns vorbei driftende Scholle! Ich werde ganz nervös. Unglaublich, kein Märchen, sie sind um uns!
Und dann der Ausruf: wer den 1. Eisbären sieht, erhält eine Flasche Champagner. Ein Ansporn. Ist man nicht geübt mit dem Fernglas, hat man jedoch kaum eine Chance. Auf der Brücke wird sofort erkannt, ob in 10 km Entfernung ein Wesen auf Eis driftet.
Aber wir werden belohnt: nach 1 Stunde Fahrt der 1. Eisbär! Dieses Männchen ist gar nicht weiß (sonst hätten wir ihn wahrscheinlich eh nicht gesehen), sondern beige. Und er ist beschäftigt: mit seinem heutigen Fang, einer Ringelrobbe stattlichen Ausmaßes. Mit der rechten Pranke schleppt er diese über die Scholle und hinterlässt einen rötlichen Faden.
Unser Schiff dreht jetzt mit dem Wind, sodass der Bär entscheiden kann, ob er in unserer Nähe bleiben will oder nicht. Es ist ihm egal, er hat sowieso Hunger. Und nicht nur er. Auch 3 Raubmöwen wollen sich laben; normalerweise dürfen sie das erst an den Resten. Der Bär jedoch wühlt sich in seine Robbe, weidet diese fach-bärisch aus, dreht uns auch mal sein Hinterteil zu, sodass wir die drolligen braunen Tatzen sehen können. Da stört so ein wenig Kleinvieh schon mal gar nicht. Am Ende ist nur mehr das Skelett übrig, es ist blutrot. Nun hat er für 1 Woche genug und kann sich auf die faule Haut legen.
Wir fahren weiter.
Ein weiterer männlicher Eisbär mit Beute kommt in Sicht. Wir drehen wieder bei, jedoch schleppt der Riese seine Robbe zweimal von uns weg, sodass wir auch das Weite suchen.
Wir könnten ja auch Appetit darauf verspüren.
Es soll auf jeden Fall vermieden werden, dass der Eisbär aus Angst vor uns zu rennen beginnt und womöglich an Hitzschlag stirbt, da er durch die enorme Fettmasse (eine Schicht von 15 cm Fett umgibt ihn) die beim Rennen entstehende Wärme nicht schnell genug abgeben kann.
Lucy und ich bleiben bis 24 Uhr an Deck, genießen die sommerliche kühle Mitternachtssonne.
Margaret moniert nun auch die Kälte in der Kabine. Ich ordere 2 weitere Steppdecken, um welche uns die Bayerinnen am nächsten Tag beneiden werden.
Am nächsten Tag, ein Sonntag, eine graue Wolkendecke und um uns Weiß-Grau. Ein neuer Ausdruck wird uns begleiten: „Misty Bear“ - so gesehen von unserem Kapitän Ernesto, ganz weit entfernt am Horizont. Ein weißer Bär im weißen Nebel... Nicht wert, uns Gäste aus den Kabinen zu locken.
Sogleich ist das Packeis nicht mehr so einladend wie im Sonnenschein. Ich frage mich, wie wir inmitten dieser Farben einen fahlen Eisbären erkennen sollen? Den ganzen Tag so dahin schleichen? Zumal jetzt Landgänge naturgemäß unmöglich sind. Ich verspüre etwas Langeweile...
Vorträge unterbrechen das Schauen. Wir lernen, dass Eis nicht gleich Eis ist. Es gibt Schlammeis, wenn das bewegte Meerwasser gefriert; Nilas, wenn das ruhige Meer gefriert, daraus entsteht Pfannkucheneis (große lose Platten); Hummocks sind Presseisrücken auf der geschlossenen Eisdecke.
Gleich nach dem Frühstück gibt’s wieder einen Aufruf: Eisbär steuerbord! Und alle stürzen in voller Montur hinaus, denn auch der Wind hat sich gehoben.
Ein Prachtexemplar! Ca. 400 kg, wieder ein Männchen. Diese leben alleine, im Sommer entweder auf offener See oder an Land. Hier ist es einfacher, sich das 15 cm dicke Fett für die Winterzeit an zu fressen als an Land, wo man erst mal wieder ans Wasser gelangen muss, um Beute machen zu können. Die Flechten und Blümchen helfen nur den ärgsten Hunger zu stillen. Der Bär interessiert sich für uns! Er möchte besser erschnuppern, welch dunkles Ungetüm in seinem Revier wildert. Er nähert sich uns. Schwimmt zwischen den Schollen, hievt seine Körpermasse auf die nächste Scholle, deren Rand einbricht, ein Schauspiel. Er kommt auf 30 m ans Schiff heran, das gleichmäßige Tuckern unseres Motors stört ihn nicht. Er hebt seine schwarze Nase mehrmals in die Luft, um uns besser zu erkennen. Das reicht ihm und er wechselt auf Backbord, um im Weiß zu verschwinden. Dieser Eisbär hat eine Narbe über dem Auge (Rinie hat dies erspäht – soll mich jetzt der Neid erfassen?).
Ein weiblicher Eisbär muss 340 kg an Gewicht aufbringen, um trächtig zu werden.
Dann schafft er es über den Winter.
Als wir eines Abends vom Dessert weggerufen werden zu einem schneeweißen Weibchen Steuerbord, welches durch den Essensgeruch in Bann gezogen wurde, können wir ob seiner Leibesfülle mit Sicherheit annehmen, dass es im kommenden Frühjahr für Nachwuchs sorgen würde.
Lucy und ich wechseln zwischen Deck und Bar-Bullauge hin und her, da die Außentemperatur sehr niedrig ist. Auch von der Brücke aus mit den Spezial-Ferngläsern kann man vorzüglich „live-fernsehen“.
Am Nachmittag wieder ein Bär: ein kleineres Männchen, das auf eine Robbe wartet. Es bedient sich gerade der 1. Jagdmethode: der stillen. Es sitzt ruhig auf einer Scholle und starrt ins Wasser. Unterhalb hat es eine Robbe erschnüffelt. Es wartet solange, bis diese auftaucht, es ihr seinen Fangzahn in den Schädel bohren und mit der Pranke an „Land“ holen kann. Dies kann Stunden dauern.
Die 2. Methode wäre das Verfolgen der Beute – ein Eisbär kann auf 100 m auf 40 km /h beschleunigen! Die 3. Möglichkeit ist die Jagd unter Wasser, wobei Robben ja auch sehr wendig sind oder 4. das Erschnüffeln einer Bruthöhle einer Robbe, welche er von oben durch sein Gewicht zu zertrümmern sucht.
Und da plötzlich - hinter unserem Schiff noch ein Eisbär! Wow! Er wandert steuerbord in die Richtung des anderen Bären. Wenn sich 2 Männchen treffen, sind sie meistens Rivalen. Aber derzeit ist keine Brautschau. Was wird passieren?
Der 1. Bär schnüffelt, beendet seine ruhige Jagd („still hunt“) und setzt sich auch in Bewegung.
Rinie sagt, dies habe er in 25 Jahren erst einmal erlebt!
Sie gehen aufeinander zu. Bleiben stehen. Einer dreht sich wieder um. Sie tun unauffällig. Und dann sind sie beide auf der gleichen Scholle. Wieder ein „Ich bin nur zufällig da“- Gehabe. Was tun? Schlussendlich kommen sie dicht zueinander und beschnüffeln den anderen. Sie setzen sich. Uff! Es sieht nicht nach einem blutigen Kampfbeginn aus! Wir sind angespannt.
Der eine erhebt sich, wird 2,5 m hoch, der andere stimmt ein und sie balgen sich! Mal liegt der eine auf dem Eis, mal der andere. Die Tatzen, alle viere, in die Luft gestreckt. Wie Kätzchen wälzen sie sich. Wir stören überhaupt nicht. Immer wieder eine Unterbrechung des Spiels. Ein gemeinsames Weiterwandern auf die nächste Scholle, dann wieder eine Einladung zum Tollen: ein Aufbäumen und Auf den anderen-Stürzen. Es dauert 1 Stunde, sodass das Abendessen verschoben werden muss.
Was für ein Geschenk der Natur! Und wir mittendrin.
Nachdem wir nun gesehen haben, wonach wir suchen, beschleicht mich ein leichtes ungemütliches Gefühl: in Eisbärenland sollen wir zwischen diesen wandern? So entspannt, einfach auf die Berge steigen und sie beobachten uns dabei?
Ja, sicher, unsere Guides haben ihre Gewehre dabei, aber erspähen diese die Bären rechtzeitig? - an Land erfolgt der täglich gleiche Ablauf: Terrain überprüfen, wo man nicht aussehen kann, freimachen oder evakuieren – wenn ein Bär nicht weichen wollen würde... Katja war schon einmal in solch eine Situation geraten, als sie ihre Gruppe aus einem Canyon einen Steilhang hoch führen wollte und an der Oberkante ein zum Glück satter Eisbär wartete...
- - -
Schon am nächsten Tag ergibt sich folgende Situation: wir haben das Packeis verlassen und laufen in ein wunderschöne, von braunen Bergen umgebene Bucht ein. Wir ankern. Die ersten fahren an Land. Mit unserem Zodiac müssen wir jedoch auf Wasser bleiben, denn am linken Buchtrand wird ein Eisbär gesichtet. Er ist ockerfarben. Sehr witzig! Hätte man solch eine Situation nicht an Bord klären können?
Das oberste Gebot: was will der Bär? - „Will he cross the bay?“ - „We are on stand-by.“ - dies verleitet mich zum Zeichnen eines Cartoons: der Bär ist „object of desire & danger“.
Nach 10 Minuten dürfen wir doch anlanden, der Bär setzt seinen Weg Richtung landeinwärts fort. Jodi im Zodiac darf ihn jetzt die kommenden 3,5 Stunden beobachten.
Wir besteigen einen Berg. Eine traumhafte Aussicht auf die Bucht, unser Schiff und die umliegende Landschaft. Nach 45 min ein Funkspruch: „What is the bear doing right now?“- „He is sitting on the beach!“ - Dies verleitet mich zu einem weiteren Cartoon: Ein Eisbär, am Strand liegend, mit Sonnenbrille, unter einem Sonnenschirm...
Anderntags wollen wir in Barentsöya, einer großen Insel, an Land gehen. Wir schippern entlang der Küste und entdecken 8 (!) Eisbären unterschiedlicher Formation. Wunderbar, wie sie im Felsgebiet dahin wandern und immer wieder nach für sie gut schmeckenden Pflanzen suchen. Ein Anlanden ist also ein No-Go.
Würden die Bären nicht genügend Nahrung bis zur Mitte des Sommers gefunden haben, so können sie auf halben Winterschlaf umstellen, um wenig Reserven verwenden zu müssen. Wissenschaftler bezeichnen diesen Zustand als „walking hibernating“.
Plötzlich ein aufgeregter Funkspruch: „Ein Blauwal backbord!“ Sofort stürzen viele mit Ferngläsern bewaffnet an Deck, um den größten auf Erden lebenden Säuger zu sehen. Er ist 30 m lang, so lang wie ein Schwimmbecken. Sein grau-blauer Rücken gleitet mehrmals aus dem Wasser, was für ein Anblick! Begleitet wird er von einigen kleineren Finnwalen. Die Experten, wie Rinie oder der 1. Offizier Wolodja, können die Walart sofort anhand der Rücken- oder Schwanzflosse benennen. Dafür ist mir die Zeit deren Auftauchens zu kurz.
Der Kapitän beschließt dann, an der gegenüberliegenden Insel an Land zu gehen, in Edgeöya.
Die Arktis ist nicht nur Heimat eines der imposantesten Raubtiere, sondern auch von vielen, oft nicht auf den ersten Blick sichtbaren Tieren: von Tausenden von Zugvögeln, die im Sommer hier Station machen: Dickschnabellummen, Krabbentaucher, Eissturmvögel,...
Und erstere können wir in Alkefjellet aus unseren Zodiacs bewundern: an 50 m hohen Basaltwänden nisten diese, den Rücken uns zugewandt. Sie bewahren so ihr Gelege aus der 5 cm breiten ebenen Felsnische heraus zu kullern. Ein Riesengeschrei über unseren Köpfen, oftmals müssen wir diese einziehen, denn die Futtersuche ist ein eiliges Geschäft. Wir schippern die Klippen entlang bis zu den Ausläufern eines riesigen Gletschers, als ein Funkspruch ertönt: „Eisbär am oberen Ende des Gletschers!“ Und tatsächlich, mit freiem Auge gerade noch sichtbar, wandert ein weiß-grauer Bär am weiß-grauen Gletscherrand entlang... was er wohl dort macht? -
In Hornsund haben wir die Möglichkeit in einer Krabbentaucherkolonie an zu sitzen, was ein einmaliges Erlebnis darstellt: mit unseren klobigen Gummistiefeln steigen wir einen weichen, mit Felsbrocken übersäten Hang empor und nehmen dann jeder auf einem Stein Platz. Vorerst suchen die Vögel das Weite, als aber Stille einkehrt, fliegen sie zu ihren Nestern zurück und in 10 m Entfernung können wir 1,5 Stunden ihrer Tagesbeschäftigung folgen. Ich bin fasziniert! Diese Vögel sind uns zugewandt; ihre Eier ruhen sicher in einer mit Moos bewachsenen Felsnische, die auch noch in den Hang abfällt.
Die Küken sowohl der Krabbentaucher als auch der Dickschnabellummen sind nicht zum sofortigen Fliegen ausgestattet. Also werden sie, wenn DER Tag kommt, eskortiert von einem Elternteil, mit lautem Gekreische zum Meer geleitet. Viele schaffen den dafür notwendigen Segelflug nicht und treffen immer wieder auf den Fjellen auf, wie ein Flummi. Diese alljährlichen Manöver bleiben natürlich nicht unbemerkt von den Raubmöwen; diese begleiten diese Flugversuche ebenso und bei erstbester Gelegenheit schnappen sie sich den Jungvogel.
In Burgerbukta können wir solch ein makabres Schauspiel live mit erleben: eine Dreizehenmöwe, die zuvor lässig auf einem Eisberg gewartet hatte, kehrt im Flug mit einem Papageientaucherküken in der einen Kralle zurück. Sie fühlt sich von unserem Zodiac gestört, lässt sich auf einem benachbarten Eisberg nieder. Dort beginnt sie den Vogel zu verspeisen: sie legt ihn auf dem Fels ab, stülpt ihren Schnabel bis zur Hälfte des Körpers darüber und reckt dann ihren Hals in die Luft, um schrittweise zu schlucken, bis nur mehr ein Füßchen des Jungen aus ihrem Maul ragt. Schaurig, aber Natur.
Ich erinnere mich, am zweiten Tag im Packeis zu Lucy am Morgen gesagt zu haben, das Blut auf den Eisschollen zu vermissen, so sehr war ich daran gewöhnt...
In Hornsund, auf dem Weg zum Schiff, marschieren wir an einer Polnischen Forschungsstation vorbei. Diese hat eine Eisbärengeschichte zu erzählen: ein männlicher Eisbär trieb sich immer in der Nähe der Häuseransammlung herum und war trotz Abwehrmaßnahmen (z. B. Stolperdraht, Leuchtraketen) nicht zu vertreiben.
Eines Tages, der Forscher befand sich im Wohncontainer, „öffnete“ der Bär die Tür. Der Mann saß gerade am WC; als er heraustrat, stand das Tier auf seinem Teppich. Ohne zu zögern schoss er. Er wurde wegen Notwehr, welche in einem Verfahren nach gewiesen wurde, frei gesprochen.
So bewegt sich die Ortelius rund um den 80. Breitengrad.
Trotzdem ist mir immer bewusst, im „arktischen Sommer“ hier zu tümpeln und aus zu schreiten, der freundlichsten Jahreszeit.
Neben vielem Weiß gibt es auch saftiges Grün, die arktische Tundra, die wunderschöne, farbenprächtige Pflanzen beherbergt: Lichtnelken, Vogelknöterich, gelben und weißen Mohn, verschiedene Arten von Steinbrech, Silberwurz u.v.m. Die Blüten sind oft nur ½ cm im Durchmesser, dafür treten sie in Trauben nahe am Boden auf.
Ausser bewachsenem Boden gibt es auch mit Steinen übersäte Hänge, an denen wir unzählige Fossilien finden: Ammoniten, Mollusken aus dem Trias z. B.
Es darf nichts mit genommen werden, nur fotografiert. Die Arktis soll von jeder Reisegruppe so verlassen werden, wie wir sie vorgefunden haben.
Unsere Guides, sie sind die Wissenschaftler, die die Bedeutung der Arktis für die gesamte Welt erforschen. Sie arbeiten in Bereichen wie: Meeresbiologie, Athmosphärische Chemie, Vogelkunde, Pflanzenpathologie, Polargeschichte. Katja z. B. verbrachte einen Winter in der Antarktis, Lars lebte 5 Jahre zu Forschungszwecken in Nuuk (Grönland), Phil leitete u. a. Antarktische Expeditionen.
Das Weltklima zum Beispiel wird wie folgt hier in der arktischen Region beeinflusst: das Salz aus dem Packeis wird ausgeschieden und sinkt auf den Meeresgrund, das tiefe Wasser bewegt sich. Das Oberflächenwasser wird dichter, mischt sich mit dem Wasser aus den Gletschern und verlangsamt die Meeresströmung, was eine Erwärmung zur Folge hat (warme Meeresströme, wärmeres Klima).
Weniger Packeis, wie es jetzt schon messbar ist, bedeutet neben Kälterwerden der Meeresströme auch: weniger Lebensraum für Eisbären und Robben.
Diese Reise ist eine meiner schönsten, weil außergewöhnlich. Den einen Pol habe ich nunmehr bereist und so ist auch in Gedanken und Reisen von uns allen der Südpol nicht fern. Viele an Bord waren schon in der Antarktis und Vergleiche und Umweltprobleme sind ähnlich. Die Russen nennen einen immer wiederkehrenden Polbesucher „Poliarnik“, mit dem Polvirus infiziert. Anfänglich erschien mir dieser Ausdruck zu weit her geholt, doch aus der zeitlichen Ferne zur zurück liegenden Schifffahrt betrachtet, wurde in unsere Köpfe tatsächlich ein neues Bewusstsein gepflanzt.
Susanne Wallner