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Die Trennung von NÖ und Wien 1920


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Die Trennung von Wien und Niederösterreich – Musste das sein?

Dr. Christian Matzka 

rundschau-Stadtzeitung für Purkersdorf 5 (2020) 14 -16. 

Ein selbständiges Land Wien kann durch übereinstimmende Gesetze des Wiener Gemeinderates und des Landtages von Niederösterreich-Land gebildet werden. So lautet der Artikel 114 der Österreichischen Bundesverfassung, die am 10. November 1920 in Kraft trat. Hinter dieser Entscheidung, Wien als Hauptstadt von Niederösterreich mit dem Sitz der Landesregierung herauszulösen, standen vor allem parteipolitische Überlegungen.

Die ersten freien Wahlen mit dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen fand in Niederösterreich inklusive der Stadt Wien am 4. Mai 1919 statt. Diese Wahlen brachten mit 46,7 Prozent der Stimmen eine absolute Mandatsmehrheit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Niederösterreichischen Landtag, der den Sozialdemokraten Albert Sever zum Landeshauptmann wählte. Bei den Wiener Gemeinderatswahlen am 4. Mai 1919 erhielt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 54,2 Prozent der gültigen Stimmen und hatte damit eine überwältigende Mehrheit im Wiener Gemeinderat, der Jakob Reumann zum Bürgermeister wählte. 

Somit hatten die Sozialdemokraten sowohl im Niederösterreichischen Landtag als auch im Wiener Gemeinderat die absolute Mehrheit. Die Arbeiterzeitung jubelte am 5. Mai 1919: Die Macht in Stadt und Land erobert! Jedoch betrachteten die bürgerlichen Medien argwöhnisch das Ergebnis. So schrieb die Freie Presse am 5. Mai 1919: Stadt und Land werden von einer Partei verwaltet werden, die der Gesellschaft des Privateigentums, den Einrichtungen, die fast überall die Grundlage des öffentlichen Lebens, der Arbeit und des Verhältnisses der Menschen untereinander sind, feindlich ist.

Für die Menschen in den abseits der Industrieregionen bäuerlich, ländlich geprägten Regionen Niederösterreichs war das Wahlergebnis schwer verständlich und stellte jahrelange Herrschaftsverhältnisse in Frage. Der Bote aus dem Waldviertel warnte am 10. Mai 1919 in einem Artikel mit dem Titel Der gefährliche Weg vor der Sozialdemokratie.

Auch warnten die anderen Bundesländer vor einer Übermacht Niederösterreichs mit Wien, da in diesem Bundesland 51 Prozent der österreichischen Bevölkerung lebten und damit auch den Bundesrat beherrschen hätte können.  

Ab dem 10. November 1920 war der Landtag in eine Wiener und eine Niederösterreich-Land Kurie geteilt. Bei den Landtagswahlen in Niederösterreich im Jahre 1921, die ohne Wien durchgeführt wurden, erreichte die Christlichsoziale Partei 49,4 Prozent der gültigen Stimmen und die absolute Mandatsmehrheit. Damit war die Teilung des Landes in einen „roten“ und einen „schwarzen“ Teil auch bei Wahlen sichtbar gemacht worden. Es wäre formal noch möglich gewesen, Beschlüsse hinsichtlich gemeinsamer Verwaltungsbereiche zu fassen, doch nichts dergleichen geschah. So trat das am 29. 12. 1921 im Wiener Gemeinderat und im Niederösterreichischen Landtag beschlossene gleichlautende Verfassungsgesetz, womit ein selbständiges Land Wien gebildet wird (Trennungsgesetz) am 1. Jänner 1922 in Kraft.

Das gemeinsame Eigentum wurde, wie bei jeder Scheidung, aufgeteilt. Dadurch verblieb die Landesblindenanstalt Purkersdorf, heute Wohnhaus Herrengasse 8, im Eigentum des Landes Niederösterreich. Die Niederösterreichische Landesregierung und der Landtag blieben bis zum Jahre 1997 in Wien. Das Landhaus wurde Eigentum des Landes Niederösterreich, wobei bei der Übersiedelung des Landtages nach St. Pölten die Wiener Eigentumsrechte auflebten und durch die Überlassung von Grundstücken, wie das nördliche Ende der Donauinsel, abgetauscht wurden. 

Die Gesetzes- und Steuerhoheit des neuen Bundeslandes Wien ermöglichte die Entwicklung des Roten Wien. Die Wohnbausteuer war die Grundlage des damals international bewunderten kommunalen Wohnbaus. Auch die Sozial- und Gesundheitspolitik in Wien war international beispielgebend. 

Wien wurde durch die Trennung der politischen und rechtlichen Verbindung zum Umland verlustig. Niederösterreich verlor die Hauptstadt und damit auch einen Teil seiner Identität. Die Nationalsozialisten bildeten mit Groß-Wien eine Gemeinde, die an Fläche mehr als doppelt so groß war wie in der Gegenwart. Die Rückgliederung vieler Gemeinden nach Niederösterreich, mit der Umsetzung am 1. September 1954, ließ den im Jahre 2017 aufgelösten Bezirk Wien-Umgebung entstehen. Mit der Auflösung ist auch dieser letzte Rest einer sichtbaren funktionalen Verflechtung des Umlandes mit Wien aus dem Alltag verschwunden. Purkersdorf ist somit ein Vorort von St. Pölten im gleichnamigen Bezirk. 

Die im Jahre 1922 entstandene Landesgrenze greift in das tägliche Leben einschneidend ein. Geht es um die Diskussion der Vergrößerung der Kernzone Wien im Verkehrsverbund Ostregion, um die Verlängerung der Wiener U-Bahn in das Umland, die Versorgung der Umlandgemeinden mit Wiener Hochquellenwasser, die Anbindung des Abwasserkanals an den Wiener Kanal oder die Entsorgung des Mülls in Wiener Müllverbrennungsanlagen, braucht es jeweils großes politisches Geschick der handelnden Personen, dass solche Vorhaben Wirklichkeit werden können. 

Diese Beispiele zeigen, dass die Wiener Landesgrenze nicht den funktionalen Verflechtungen innerhalb der Stadtregion Wien entspricht und viel zu eng gezogen ist, wie schon vor vielen Jahren die Geographin Elisabeth Lichtenberger feststellte. Ein um das Umland, den viel zitierten Speckgürtel, erweitertes Bundesland Wien mit selbstständigen Gemeinden sollte angedacht werden.  

Unüberwindbar ist die Landesgrenze für Lehrkräfte an Pflichtschulen. Da die Bundesländer die Personalhoheit besitzen, ist eine Versetzung einer Lehrperson von Wien-Hadersdorf nach Purkersdorf nicht möglich.

Auch die Versorgung in den Landeskliniken ist nach Regionen geregelt. Trotz der räumlichen Nähe zu Wiener Spitälern ist das Landesklinikum Tulln für die Purkersdorfer Bevölkerung zuständig, da das Sanatorium Purkersdorf im Jahre 1975 seine Pforten schloss. Es fehlte an politischem Willen, am Stadtrand von Wien, durch beide Länder, ein Spital mit einem länderübergreifenden Einzugsbereich zu finanzieren. 

Der Hauptstadtbeschluss im Jahre 1986, der Bau des Regierungsviertels in St. Pölten und die Übersiedelung von Landtag und Landesregierung in die neue Hauptstadt an der Traisen bewirkte eine neue Identitätsentwicklung eines selbstbewussten Bundeslandes. Die Weltstadt und Globalctiy Wien scheint davon allerdings unberührt, schöpft man doch das Selbstbewusstsein aus der internationalen Position in einer Europaregion mit der Twincity Bratislava, aus der Weltstellung im Tourismus und aus dem Standort internationaler Organisationen. 

Die räumliche Entwicklung in Niederösterreich folgte in den letzten Jahrzehnten international bekannten bipolaren Konzepten. Als Gegenpol zur Landeshauptstadt entstand die Wissenschafts- und Kulturmetropole Krems, die bis zum Festspielzentrum Grafenegg reicht.

Dieser moderne niederösterreichische Zentralraum St. Pölten – Krems zeigt politisch, ökonomisch und kulturell das neue Selbstbewusstsein des bei Nationalratswahlen an Wahlberechtigten größten Bundeslandes. 

Auch ermöglichte die Trennung von Wien den Ausbau des Kernlandes der ÖVP, als das Niederösterreich oft bezeichnet wird. Es ist das Bundesland mit dem höchsten Stimmenanteil der ÖVP bei Landtagswahlen und das einzige Bundesland, wo die ÖVP über eine absolute Mehrheit im Landtag verfügt. Rechnet man die Wahlergebnisse der letzten Landtagswahlen in Niederösterreich und Wien zusammen, dann würde in einem gemeinsamen Bundesland, im Unterschied zu den Wahlen im Jahre 1919, die ÖVP die stimmenstärkste Partei sein. 

Im menschlichen Leben ist nichts in Stein gemeißelt. Die Landtage, unterstützt durch Volksbefragungen, und eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat können jederzeit die Verfassung und damit auch die Bundesländergrenzen ändern.  Vielleicht denken zukünftige Generationen wieder einmal darüber nach. 

Quellen

Arbeiterzeitung, 5. Mai 1919.   

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=aze&datum=19190505&seite=1&zoom=33  

Bundesverfassung 1920. https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000041&FassungVom=1920-12-01

Die Freie Presse, 5. Mai 1919.

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19190505&seite=1&zoom=33  

Der Bote aus dem Waldviertel, 10. Mai 1919.  

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=bwv&datum=19190510&seite=1&zoom=33

Bevölkerung Wien.

https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Bev%C3%B6lkerung#Einwohner_.28Stadt_und_Vorst.C3.A4dte_bzw._Stadtgebiet_zum_Zeitpunkt_der_Z.C3.A4hlung.29

Bevölkerung NÖ. https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/subsites/Institute/VID/PDF/Publications/diverse_Publications/Historisches_Ortslexikon/Ortslexikon_Niederoesterr eich_Teil_1.pdf  

Bevölkerung Österreich.  

https://de.wikipedia.org/wiki/Demografie_%C3%96sterreichs

Fassmann, Heinz, Hatz, Gerald, Wien. Stadtgeographische Exkursionen (Wien 2002).

Gemeinderatswahlen Wien 1919.  

https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gemeinderatswahlen#Erste_Republik_-_Sozialdemokratische_.C3.84ra_.281918-1934.29

Gemeinderatswahlen Wien 2020.

https://www.wien.gv.at/wahlergebnis/de/GR201/index.html

Komarek, Alfred, Rings um Wien. Gegenwelten zur Metropole (Wien 1996).

Landtagswahlen NÖ 1919.

https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Nieder%C3%B6sterreich_1919#:~:text=Die%20Landtagswahl%20in%20Nieder%C3%B6sterreich%201919,Zeitpunkt%20noch%20Teil%20Nieder%C3%B6sterreichs%20war.

Landtagswahlen NÖ 1921.  

https://noe-landtag.gv.at/der-landtag/wahlen/1921-1932

Landtagswahlen NÖ 2018.   

http://www.noe.gv.at/wahlen/L20181/Index.html

Lichtenberger, Elisabeth, Stadtgeographischer Führer Wien (Sammlung Geographischer Führer 12, Berlin/Stuttgart 1978).

Trennungsgesetz 1921.  

https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrW&Gesetzesnummer=20000318

https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Trennungsgesetz#:~:text=November%201920%20und%20die%20Wiener,Nieder%C3%B6sterreich%20auch%20eigentumsrechtlich%20vollzogen%20wurde.

https://www.addendum.org/niederoesterreich/wien-noe/

Wahlberechtigte NRW 2019.  

https://bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Nationalratswahl_2019/

 

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